Herzlich Willkommen zu einer weiteren Ausgabe der geistigen Steinwüste!
Nach dem jetzt lange Zeit nix kam, darf ich euch Heute einmal mit einem Gastkommentar überraschen. An dieser Stelle meinen Dank an den guten Aristeros. Dieser war so frei mir seine Gedanken zur aktuellen Lage zu übermitteln und euch zur Verfügung zu stellen.
Teilt mir gern Eure Meinung zu den Gastbeiträgen mit. Gern könnt Ihr euch auch selbst mit Beiträgen beteiligen. Keine Angst, das wird nicht zum Dauerzustand, nächste Woche kommt auch wieder was Eigenes von mir. Euch jetzt aber erst einmal viel Spaß beim Lesen.
Gedanken zur gegenwärtigen Lage
Die Frage, die mir die ganze Zeit durch den Kopf geht, ist, ob die Gefühlslage und die politischen Programmatiken eigentlich mit der realen Faktenlage in Übereinstimmung zu bringen ist. Im Westen hat man das Gefühl vor dem Abgrund zu stehen. Dieses Gefühl betrifft nicht nur Deutschland, sondern mindestens auch Frankreich, Großbritannien und die USA. Ein Bürgerkrieg durch Trumpisten wurde befürchtet, wenn in den USA Kamala Harris gewonnen hätte. In Europa gehen verschiedene Untergangsszenarien umher. Wahlweise kommt das Ende durch die Machtübernahme faschistischer Kräfte, einem Atomkrieg Russlands gegen die NATO, Freiheitsvernichtung durch eine woke Ideologie, die Folgen des Klimawandels oder die Überfremdung durch muslimische Migranten. Je nachdem, wovor man sich am meisten fürchtet, entstehen im Moment die Wahlpräferenzen.
Diese politischen Schreckensbilder lenken im Moment stark die Debatte und auch die politische Kommunikation. Dabei ist politischen Lagern gemein, dass sie den jeweils anderen nicht mehr trauen. Der Vorwurf lautet: Ihr habt das Interesse der Bevölkerung nicht mehr im Blick. Dieses Misstrauen ist im Grunde eine Bankrotterklärung für den politischen Liberalismus. Wenn wir eine liberale Demokratie haben wollen, dann bedarf es eigentlich eines grundsätzlichen Zutrauens, dass auch die andere Seite eine positive Vision Deutschlands hat. Dieses Zutrauen ist in einer Wolke der Polemik eingehüllt, falls es überhaupt noch vorhanden ist.
Dabei ist die digitale Kommunikation eher eine Hürde denn eine Hilfe. Digitale Kommunikation erweist sich als Beschleunigerin für die absurden und extremen Meinungen. Die alte Regel der Kommunikationswissenschaft, dass die Form des Mediums auch bestimmte Inhalte mitformt und damit bestimmte Meinungen selektiert und sie attraktiver, weitreichender und besser darzustellen macht, stimmt hier völlig.
Auch auf der politischen Bühne bedarf es in einer Zeit der Eilmeldungen auf dem Handy und der Verschwörungstheorien auf Youtube eine stärkere Standhaftigkeit als dies in Zeiten von zwei Fernsehsendern und einer Hand voll einschlägiger Tageszeitungen der Fall war. Gerade dünnhäutige Personen reagieren schnell auf schlechte Umfrageergebnisse und die Meldung „mehr als 50% der Deutschen finden, dass…“. Eigene Überzeugungen und Handeln aus Prinzipien ist an dieser Stelle immer schwerer, weil die Anfragen immer häufiger werden.
Genau solche Umfragen ergeben dann, dass die Stimmung der Deutschen enorm schlecht ist und zwar insbesondere, wenn sie auf das Große Ganze schauen. Einige Umfragen ergeben, dass die Deutschen die eigene ökonomische Situation als sehr gut empfinden aber die Gesamtsituation als schlecht [1]. Hier tut sich ein merkwürdiger Unterschied auf, der mich immer wieder zum Nachdenken bringt.
Diese Merkwürdigkeit findet sich auch dann, wenn alle von Deindustrialisierung sprechen und gleichzeitig Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft auf der Welt ist [2]. Für nichts scheint Geld da zu sein, aber die Steuereinnahmen nehmen jedes Jahr zu. Eine große Energiekrise und hohe Strompreise werden bemängelt, aber der Strompreis liegt inzwischen wieder auf Vorkriegsniveau [3]. Es gibt Ungleichzeitigkeiten, die mir nicht einleuchten.
Andere Merkwürdigkeiten sind Debatten-Zombis. Totgesagte leben länger, scheint hier eine politische Wahrheit. Die Union und AfD wollen wieder die Atomverstromung haben, wobei die Kosten der meisten Neubauten von Atomkratwerken gerade explodieren und die Wirtschaftlichkeit in Frage steht [4]. Die FDP träumt davon, dass weniger Steuern für Reiche eine höhere Investitionsrate nach sich ziehen würde, obwohl die Reichen in Deutschland seit seit der Wiedervereinigung beständig reicher werden [5]. Von fast allen Parteien kommen Vorschläge zur Eindämmung von Migration, wobei wir gleichzeitig Fachkräfte anwerben. Politische Verlautbarungen wie totgerittene Gäule, die von den Deutschen bestaunt werden, als seien sie das neuste Tesla-Modell.
Was aber am unverständlichsten ist ist, dass die eigentlichen Probleme kaum thematisiert werden. Unsere Bevölkerungsentwicklung und auch die Veränderung der Erwerbskulturen sind ein Beispiel. Lehrer und Ärzte wurden zu wenige vom Staat ausgebildet, wobei hier relativ klar zu prognostizieren ist, wie hoch der Bedarf ist. Gleichzeitig sind Akademiker oft Doppelverdiener und den 70-Stunden-Schichtdienst-Chirurgen, dessen Haushalt und Kinder von der Ehefrau geführt wurden, gibt es seltener als vor 50 Jahren. Die Schrumpfung der Bevölkerung ist insgesamt ein großes volkswirtschaftliches Problem, da die Frage immer drängender wird, wie immer weniger Arbeitnehmer immer mehr Rentner versorgen sollen. Ein weiteres Problem sind die mangelnden Gelder in die Zukunftsinvestitionen Bildung und Infrastruktur [6]. Bereiche, in denen Deutschland im internationalen Vergleich schlecht darsteht, obwohl es die einzigen Dinge sind, die Deutschland als Wirtschaftstandort in den letzten 50 Jahren attraktiv gemacht haben. Auch die Vermögensungleichheit wäre hier zu nennen. Friedrich Merz tut gerade so, als wäre eine Steuerreform, die Menschen über 105.000€ mehr belasten würde, ein Verbrechen an jedem Arbeitnehmer in Deutschland sei [7].
Die Assymetrien sind erstaunlich in der Gegenwart und machen mich oft sprachlos. In der Gegenwart sehe ich nur sehr wenige Stimmen, die diese Fragen und Probleme in ein richtiges Verhältnis zueinander setzen. Ich erlebe zumeist komische und verzerrte Debatten, die ich einfach mal darstellen wollte.
Ich wünsche mir eine politische Debatte, die nicht an allen Ecken irgendwelche Nebelkerzen aufstellt. Ich wünsche mir eine politische Debatte, die die eigentlichen Probleme Deutschlands benennt und diese angeht. Ich wünsche mir eine politische Debatte ohne die Instrumentalisierung irgendwelcher nationalistischer oder klassistischer Gefühle. Aber manchmal muss man auch mal träumen.
[1] https://www.n-tv.de/politik/Wie-geht-es-den-Deutschen-article24435543.html
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt
[3] https://www.ndr.de/nachrichten/info/Strompreis-aktuell-So-viel-kosten-die-Kilowattstunden,strompreis182.html
[4] https://energiewinde.orsted.de/energiepolitik/atomkraft-ausbau-stockt-weltweit-erneuerbare-guenstiger
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Verm%C3%B6gensverteilung_in_Deutschland
[6] https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2022/heft/7/beitrag/chronischer-investitionsmangel-eine-deutsche-krankheit.html
https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/Tabellen/Basistabelle_BildAusg.html
[7] https://www.zeit.de/wirtschaft/2024-10/steuerreform-spd-einkommen-reichtum-finanzpolitik